In der letzten Woche fand die re:publica in Berlin statt. Was einst als kleines Treffen einiger Hundert Blogger begann, ist im 9. Jahr zu einem Konferenz-Festival mit 7.000 Teilnehmern und internationalem Medienecho geworden. Ich war nun schon zum 4. Mal mit dabei, als sich in der Station Berlin am Gleisdreieck in 450 Vorträgen, Workshops und Panel-Diskussionen auf die Suche nach Europa gemacht wurde. Das diesjährige Thema lautete: “Finding Europe”.

Der Fokus Europa, kaum ein Begriff ist derzeit politisch und gesellschaftlich so aufgeladen, zeigt wie weit sich die einstige Nerd-Konferenz, die medial und politisch belächelt wurde, gewandelt hat. Unverständlich, wenn auch heute noch im Rahmen der Berichterstattung von einem Treffen von Geeks, Nerds und Hackern gesprochen wird. Im Laufe der 4 Jahre habe ich die persönliche und berufliche Entwicklung von Teilnehmern mitbekommen. Aus einstigen Twitter-Nerds sind verantwortliche Strategen in Agenturen und Wirtschaftsunternehmen geworden. Entwickler kreieren digitale Produkte, die die Echtwelt verändern. Berater lehren den verantwortungsvollen Umgang mit dem Digitalen. Sie alle prägen den digitalen Wandel, treiben den Fortschritt und sind ein realer Teil der Produktivitätsgesellschaft. Und keine Freaks am Rande der Gesellschaft.

Anders als in den Vorjahren werde ich im Folgenden einige der von mir besuchten Vorträge vorstellen und den Inhalt kurz anreißen. Sie schicke ich dann auf die verfügbaren Video-Mitschnitte. In Zeiten von Apple TV, Amazon FireHD und Smart-TVs sind diese Sessions nicht nur informativer als das übliche Fernsehprogramm - sie sind auch abrufbar, wenn Sie es möchten.

He was sending to out of space: ISS-Astronaut Alexander Gerst

He was send to out of space: ISS-Astronaut Alexander Gerst “Blue Dot Mission - Sechs Monate Leben und Arbeiten auf der ISS”

ESA-Astronaut Alexander Gerst lebte und arbeitete von Mai bis November 2014 im Rahmen seiner “Blue Dot”-Mission auf der Internationalen Raumstation ISS. Als @astro_alex begeisterte er viele Menschen mit faszinierenden Fotos und Videos der Erde.

Auf seiner Blue Dot-Mission hat @astro_alex, wie Alexander Gerst auf Twitter heißt, die zurückgelassenen Erdlinge mit beeindruckenden Weltraumaufnahmen begeistert. Auf der großen Hauptbühne gelang ihm das erneut. Weniger digital, dafür umso emotionaler nahm er das Publikum mit auf seine Reise und verdeutlichte, welch fragiles Gebilde uns beherbergt. Für alle Technikbegeisterte skizzierte Gerst, wie der Prozess zum Astronaut-Werden vor sich geht. Das Learning: “Gibt jedem Traum im Leben eine Chance”. Er wurde von 10.000 Bewerbern ausgewählt, mit 300 Tonnen Treibstoff ins All geschossen zu werden.

Hier ist der sehr unterhaltsame Vortrag von Alexander Gerst…

 

Gunter Dück: Schwarmdummheit Gemeinsam sind wir dumm: Gunter Dueck “Schwarmdummheit”

Unternehmen, Teams oder Parteifraktionen sind ein großes System von Menschen, die man ja bei der Einstellung oder Wahl für richtig gut hielt. Wie kommt es dann, dass sich diese vielen intelligenten Menschen aus rasendem Alltagsstress heraus in Meetings begeben und dort ineffektiv tonnenvoll Zeit verschwenden, sodass viele Menschen alles rund um Zusammenarbeit, Abstimmungen und Teamarbeit als ausgesprochen quälend erfahren?

Wir alle kennen die Schwarmintelligenz. Aber so wie es neben singulärer Intelligenz auch die Dummheit gibt, so tritt diese Form auch in Schwärmen auf. Jeder von uns hat dies schon erlebt: vermeintlich intelligente Menschen treffen sich in Meetings und nach einigen Stunden verlassen alle mit einer schlechten Kompromisslösung den Raum. Dueck, Ex-CTO von IBM, rechnet nicht nur vor, sondern auch ab. Und zwar mit BWLern. Ein Plädoyer für weniger Auslastung im beruflichen Alltag, für höhere Produktivität.

Hier geht es zum BLW Grundkurs nach Dueck…

 

republica2015_google_medizin Ein Blick durch die Kundenbrille: re:health: Die Logik von Google und der Anspruch an gute Gesundheitsinformationen

Dies war die Veranstaltung, bei der ich mich innerlich am meisten aufgeregt habe. Und bei der ich häufig mit dem Kopf genickt habe. Letzteres tat ich, wenn Jens Redmer, Leiter Google New Products, über das Produkt Knowledge Graph und die konsequente Ausrichtung auf den Nutzer sprach. Nervös wurde ich hingegen, wenn Klaus Koch vom GKV-finanzierten IQWiG den Fokus weg vom Anwender hin auf die perfekte Gesundheitsinformation im Netz legte. Deutlicher konnte nicht werden, warum Google heute mit >95% Marktanteil alle Konkurrenten vom Platz gefegt hat - und offensichtlicher konnte das Deutsche(?) Problem nicht dargestellt werden: Während Google konsequent seine Nutzer im Fokus hat und seine Produkte auf die Bedürfnisse maßschneidert, werden in halbstaatlichen Organisationen wertvolle Gelder verbraucht, um zwar die perfekte Datenbank zu erschaffen - die am Ende aber am Bedarf des potentiellen Konsumenten vorbei gehen.

Leider gibt es kein Video zum Schlagabtausch - dafür aber einen Audio-Mitschnitt…

 

Was deutsche Behörden von England lernen können Was deutsche Behörden von England lernen können? Sign Up for Hartz-4

Kommunikation zwischen staatlichen oder kommunalen Einrichtungen und Bürgern gestaltet sich in vielen Fällen schwierig – oft liegt dies an schlecht gestalteten Kommunikationsprozessen. Wie würden Kommunikationsprozesse aussehen, die vom Nutzer, also dem Antragsteller gedacht würden? Ein Vortrag über User Experience, Social Design und Human Centered Design.

Thomas Weyres von der Zentralen Intelligenz Agentur beschäftigte sich in seinem Vortrag über die Kommunikation zwischen staatlichen/kommunalen Einrichtungen und Bürgern. Am Beispiel eines Hartz-4-Antrags verdeutlichte er, welch Abgründe sich aus sich von User Experience auftun und skizzierte im Anschluß, wie z.B. in England der Dialog Staat-Bürger funktioniert. Wer hätte es gedacht: auch in England ist man uns einen Schritt voraus. Sein Vortrag war aber letztendlich die Frage auf, ob es nicht von staatlicher Seite gezielt gewünscht ist, sich den Bürger vom Leibe zu halten.

Den Hartz-4-Vortrag gibt´s nur auf die Ohren. Als Audio-Mitschnitt…

 

Nudge, Nudge: Holm Friebe und Opt-Out Single Opt-Out: Nudge! Nudge! – Was Design von Verhaltenspsychologie lernen kann

“Nudging” und das dahinter liegende Konzept des “liberalen Paternalismus” treffen nicht nur in der notorisch kritischen Netz-Community auf die erwartbaren Anti-Reflexe. Dabei könnte es – richtig verstanden und benutzt – ein sehr nützliches und brauchbares Paradigma für das Design sozialer Systeme abgeben.

Das Thema, welches Holm Friebe von der Zentralen Intelligenz Agentur, vorstellte, ist eigentlich banal. Doch er hätte es nicht ins Programm geschafft, wäre dies jedem Designer und Kommunikations"experten" allgegenwärtig. “Ein Nudge (engl. für Stups oder Schubs) ist für die Erfinder des Begriffs Richard Thaler und Cass Sunstein eine Methode, um ohne Verbote oder Befehle das Verhalten von Menschen zu beeinflussen.” (Quelle: Wikipedia).

Als Beispiel auf oben gezeigtem Foto sieht man den Vergleich zwischen der Organspendebereitschaft der Bürger diverser Länder. Auffällig ist der enorme “Bruch” z.B. zwischen Deutschland und Österreich. Der Hintergrund ist simpel: während man sich in Deutschland aktiv FÜR Organspende entscheiden muss, bedarf es in Österreich eine Aktion, um NICHT spenden zu wollen. Die Default-Einstellung in Österreich ist also “Spenden”. Es lässt sich erahnen, welche Möglichkeiten die Auseinandersetzung mit dem Nudging bieten.

Hier ist das Video mit Holm Friebe…

 

TV-Revolutionär: Reed Hastings, CEO von Netflix Internet kills the Tagesschau: Reed Hastings, Co-Founder und CEO von Netflix

At his first public appearance in Germany since the September 2014 start of the German Netflix, Hastings will speak at MEDIA CONVENTION/re:publica on the future of digital entertainment and Netflix’s plans in Germany, Europe, and the world.

Der größte Saal, voll besetzt: Die Zukunft des Fernsehens scheint nicht nur Medienmacher zu interessieren. Mitgründer und CEO von Netflix, Reed Hastings, zog seine Show ab und betonte, dass sich in seinem Leben nichts koordiniert nach (Business?)plan verlaufen ist. Viele Zufälle und Begegnungen führten dazu, dass er heute als einer der Macher der TV-Revolution auf der Bühne stehen kann. Ebenfalls denkwürdig: Hastings hat kein eigenes Büro. Er arbeitet dort, wo er gebraucht wird - oder wo gerade der richtige Ort ist. Der leistungsorientierten Firmenkultur bin ich auf der re:publica an einigen Stellen begegnet. Deutsche Unternehmen werden sich in den kommenden Jahren wandeln müssen, um für den kreativen Nachwuchs attraktiv bleiben (werden) zu wollen.

Hier ist das Video des Auftritts von Reed Hastings…

Kulturstaatssekretär Tim Renner (l) und Dieter Gorny  (r) im Gespräch Musik, Visionen und Politik

Mit Dieter Gorny, der neue “Beauftragte für kreative und digitale Ökonomie” des Bundeswirtschaftsministeriums und Tim Renner, Staatssekretär für kulturelle Angelegenheiten des Landes Berlin sind seit kurzer Zeit zwei Urgesteine der deutschen Musikwirtschaft an wichtige Stellen der digitalen Gesellschaft gerückt. Was sie dort bewegen wollen, ob es ihnen mit ihren Zielen gelingt ihrer politischen Funktion und allen Anspruchsgruppen, nicht nur den “großen Playern”, gerecht zu werden und wie sie den einseitigen Blick durch den Notenschlüssel des Musikbusiness vermeiden wollen, möchte re:publica Geschäftsführer Andreas Gebhard in einem Gespräch ermitteln.

Ich muss gestehen, dass ich nur wegen Tim Renner, Berlins neuem Kulturstaatssekretär, in die Veranstaltung gegangen bin. Seine Art und Weise mit der er derzeit in Berlin die Kulturpolitik entstaubt, ist von außen (Hamburg) betrachtet sehr erfrischend und sorgt für offensichtliches Unbehagen bei den Alteingesessenen der Szene. Anderen staatlichen, halbstaatlichen (und privatwirtschaftlichen) Institutionen würde diese Art auch gut tun.

Zum Video…

Felix Schwenzel hinterfragt die Farbe Blau Und der Himmel ist weiß: Felix Schwenzel “Kognitive Dissonanz”

Warum es hilfreich sein könnte, Widersprüche auszuhalten, statt sie aufzulösen.

Welche Farbe hat der Himmel? Weiß! Zumindest glaubte das ein Kind, dessen Vater ihm nie gesagt hat, wie die Farbe da oben wirklich heißt. Felix Schwenzel regt in seinem Vortrag zum Nachdenken und Hinterfragen von typischem Verhalten an. Anhand einer Reihe von Beispielen wird deutlich, wie sehr uns unser Gehirn abschottet. Und diese Abschottung aufzubrechen ist notwendig, um Neues zu entdecken, zu entwickeln und zu erleben.

Hier ist das Video wahrnehmbar…

 

Fast alle Vorträge sind auf Youtube nachzusehen/hören. Hier ist die Playlist mit großartigen weiteren Sessions…

Impressionen:

Und doch: Hacker waren auch auf der re:publica unterwegs. Mit ausgefeilten Hacks:

Bester Technology-Hack auf der re:publica

 

volles Haus volles Haus: Die Stages waren stets (bzw. überall, wo ich war) maximal gut besucht

 

Die Station am Gleisdreieck: Party und Netzwerken am Abend Die Station am Gleisdreieck: Party und Netzwerken am Abend: Gleichwertig zu dem vollen Konferenzprogramm ist das Netzwerken auf dem Hof der Station. Bis spät in die Nacht bietet die Location Raum und Stimmung, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen, Privates und Wirtschaftliches zu besprechen.

 

Und zum Abschluss ein “Insider”, der diese Konferenz zu dem macht, was sie ist: ein offener Austausch über persönliche Befindlichkeiten hinweg. Denn beim Karaoke singen wir alle gleich schief. What happens in Berlin stays in Berlin What happened in Berlin stays in Berlin

 

Am 2.5.2016 findet die 10. re:publica statt.